Zur Ausstellung: Phantom Horizon
Maya Bringolf
Phantom Horizon
5. Mai – 1. Juli 2018
Phantom Horizon
Maya Bringolf (*1969 in Schaffhausen, lebt und arbeitet in Zürich) präsentiert in ihrer ersten Einzelausstellung in der Bodensee-Region eine konzise Auswahl an Arbeiten, die in den letzten zwei bis drei Jahren enstanden. Unter dem Titel Phantom Horizon sind mehrere Werkgruppen bzw. einzelne Vertreter versammelt, in denen sich die Künstlerin mit Fragen der visuellen Repräsentation von Raum, insbesondere des Räumlich-Hybriden, aber auch mit dem Raum als phänomenologischer sowie konkret erfahrbarer Kategorie beschäftigt. Die jüngsten Arbeiten verfolgen darüber hinaus einen expliziten Körperbezug, und zwar nicht in Form von Abbild oder Darstellung, sondern anhand der Transformation von Alltagsgegenständen, die eine doppelbödige und irritierende Objektpräsenz aufweisen.
Da ist zunächst die Gruppe skulpturaler Bekleidungs-Objekte, die ein vielfältiges assoziatives Netz aufspannen, aufgrund ihres Titels Mac goes mental (2018) noch zusätzlich klare narrative Signale setzen. Im englischen Sprachgebrauch bezeichnet ein «mackintosh» oder kurz «mac[k]» einen Regenmantel, benannt nach dem Schottischen Chemiker und Erfinder wasserdichter Textilien Charles Mackintosh (1766–1843). In den Zwanzigerjahren wurde die Variante des «Burberry» stilprägend; dieser durchwehte in den Vierziger- und Fünfzigerjahren den Film Noir (Stichwort «Rick» in Casablanca) und schützte auch Inspektor Derrick in der gleichnamigen TV-Serie (1974–1998) vor zu viel Nass. Die mit Harz überzogenen Mäntel rufen diese kulturellen Referenzen unmittelbar hervor, während anhand ihrer Formung und Platzierung Bilder von kauernden Obdachlosen, weggeworfener Kleidung am Strassenrand, Müll-Säcken und anderen «zivilisatorischen Verdrängungsfiguren» evoziert werden. Die versteifte Textilhaut hüllt keinen Körper ein, sie stellt sich und ihre Funktion aus, feiert ihren kulturellen Status. Und ruft man sich nochmals den Titel ins Gedächtnis, entfaltet sich ein ambivalentes Assoziationsspektrum, das über den abwesenden Körper auf den Mantel als Subjekt einer hypothetischen Narration verweist. Wie in Nikolai Gogols berühmter Erzählung Der Mantel (1842) sind auch Bringolfs Mantel-Objekte Doppelgänger, die ihre jeweilige situative Verortung abgeworfen und sich verselbständigt haben, wobei die Posen und «Gebärden» beredtes Zeugnis von ihrer Befindlichkeit ablegen.
Diese Körperreferenz schwingt auch in der Sound-Skulptur Aus dem letzten Loch pfeifen (2015) mit. Die an einen Harley-Davidson-Auspuff montierte Orgelpfeife stösst ein tiefes Brummen aus, das man der eher filigranen Konstruktion nicht unbedingt zutrauen würde. Denn der wie ein Abschussrohr in die Luft ragenden Orgelpfeife scheint das zugehörige Körpervolumen zu fehlen, um einen solchen sonoren Ton zu produzieren; und von dem kraftstrotzenden Motorrad und dessen akustischen Emanationen ist auch nur ein Auspuff übrig geblieben. Ironisch und liebevoll zugleich setzt Bringolf hier High und Low, Bach’sche Orgelmusik und Easy Rider zueinander in Beziehung, woraus sich ein neuer Klangkörper eröffnet, der direkt auf die Besucher/innen «abgefeuert» wird.
Transportsysteme und Kreisläufe beschäftigen Maya Bringolf seit längerem, und dies nicht nur in ihren skulpturalen Arbeiten. Die beiden grafischen Werkgruppen belegen dieses Interesse auf eindrückliche Weise, zugleich tritt in ihnen eine experimentelle, äusserst zeitgemässe Auseinandersetzung mit der Collage zutage. Die 2015 entstandenen Tintenstrahldrucke basieren auf digitalen Bildkompositionen, die aufgrund der Motivik durchaus als digitale Collage bezeichnet werden können. Die von Hand aufgesetzten zarten Kugeln punktieren den ohnehin hybriden Bildraum ein weiteres Mal; einerseits verankern sie damit die Bildwirklichkeit in einer konkreten Entstehungsrealität, während sie andererseits wie «Einschläge» aus einer anderen Sphäre wirken. In den neuesten Arbeiten kehrt Bringolf wieder zum «ursprünglichen» Verfahren der Collage zurück, die Bildfindungsprozesse verlaufen hingegen intuitiver. Die auf Fotografien der eigenen skulpturalen Arbeiten basierenden Röhren-Elemente sind effektiv aufgeklebt, dann kommen verschiedene Lacke zum Einsatz: grossflächig gesprayt oder in fein gezogenen Linien, als Farbhauch und oder glänzender Markierungen, opak und transparent. Auf inhaltlicher Ebene rückt die Befragung des Bildraums ins Zentrum, abstrakte Konstruktion und intuitive Farbsetzung werden miteinander so in Beziehung gebracht, dass eine Art schwebende Wesenheit und Atmosphäre entsteht.
Mit den in diesem Jahr entstandenen Bodenobjekten führt Bringolf das Thema von Raumöffnung und –begrenzung fort und verknüpft es mit Alltagserfahrungen: Abgeformte Gully-Deckel bilden die Vorlage der eisblau schimmernden Epoxidharz-Scheiben, die im Gegensatz zu ihrer Vorlage einen Blick auf das Darunterliegende möglich erscheinen lassen. Das Verborgene in Andeutung sichtbar machen, die hypothetische unter dem Boden des Ausstellungsraums verlaufende Kanalisation an der Oberfläche versiegeln. Der im Ausstellungstitel genannte «Phantomhorizont» bezeichnet bei der geologischen Untersuchung von Gestein unter der Erde einen Schichtverlauf, der aufgrund benachbarter Schichten angenommen werden muss, da nicht genügend wissenschaftliche Daten für eine exakte Berechnung vorliegen. Während dieses Verfahren in der Geologie eine «Notlösung» darstellt, eröffnet es in Bezug auf Maya Bringolfs Arbeiten einen gedanklichen Rahmen, worin Räumlichkeit als etwas In-Erscheinung-Begriffenes auftritt und Material-Dinglichem eine ephemere Dimension innewohnt. Mit dieser Werkkonzeption reagiert die Künstlerin sowohl auf theoretische Konzepte paralleler Universen als auch auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation, die nicht nur auf politisch-existenzieller Ebene von Verunsicherung und Überforderung sowie dem Bedürfnis nach Stabilität und Klarheit geprägt ist.
Irene Müller, April 2018