Zur Ausstellung: Filmstill
Optisch Unbewusstes
Zu den entwundenen Film-Bildern von Matthias Gabi
Das Schauen von Filmen basiert auf einer merkwürdigen Paradoxie: Damit wir Bewegungen auf der Leinwand erkennen können, dürfen wir nicht sehen, woraus diese eigentlich gemacht sind. Oder noch radikaler formuliert: Filme sieht man nur, wenn man sie nicht zu genau sieht. Denn in den einzelnen Bildkadern des Filmstreifens sind eigentlich gar keine Bewegungen zu sehen.
Vielmehr zeigen diese Kader des Filmstreifens Figuren immerzu nur in starren Posen festgehalten, in lauter fotografischen Einzelaufnahmen, jedes für sich unbeweglich, wenn auch vom vorhergehenden, wie auch vom folgenden Bild in winzigen Nuancen abweichend. Erst indem man diesen Streifen von starren Bildern bewegt, ihn mit einer Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde durch die Maschine des Projektors laufen und dabei noch zusätzlich von dessen Mechanik der Blende skandieren lässt, beginnt das auf die Leinwand projizierte Filmbild sich scheinbar zu bewegen. Bei genügend hoher Geschwindigkeit beginnen die starren Einzelaufnahmen ineinander zu fliessen und unserem trägen Auge, das dem schnellen Sprung von einem Bild zum nächsten nicht mehr zu folgen vermag, kommt es dann so vor, als fingen die auf den Einzelbildern festgehaltenen Figuren selbst an, sich zu bewegen und zu laufen. Alles nur eine optische Täuschung: die Illusion des Films beruht auf einem buchstäblichen Übersehen seiner Einzelbilder.
Die Fotoarbeit Filmstill von Matthias Gabi macht dieses Übersehen wieder rückg.ngig: Indem er aus Spielfilmen Einzelbilder herauslöst, sie isoliert und für sich stehen lässt, exhumiert er gleichsam, was im bewegten Filmbild immer schon verborgen und in ihm begraben war. Der Philosoph Walter Benjamin hatte in den Dreissiger Jahren dem mechanischen Auge der Filmkamera die wundersame Fähigkeit attestiert, eine andere Realität zeigen zu können, als die uns vom Alltag her vertraute: Die Kamera, mit ihrer Fähigkeit die Dinge auf ganz neuartige Weise zu zeigen, führe uns ein Optisch-Unbewusstes vor, so wie die Psychoanalyse uns auf das Triebhaft-Unbewusste aufmerksam mache, heisst es bei ihm. Matthias Gabis Bilder hingegen zeigen uns das Optisch-Unbewusste des Films selbst, jene starren Einzelglieder, aus denen die Illusion des bewegten Bildes gemacht ist und die wir doch nie bewusst wahrnehmen und über die der Film in seiner rasenden Geschwindigkeit immer nur hinweggegangen ist. Für Benjamin zeigt sich das Optisch-Unbewusste des Films etwa dann, wenn mittels Grossaufnahme und Zeitlupe noch die unmerklichsten Körperbewegungen und die feinsten Berührungen sichtbar werden, zum Beispiel wenn eine Hand nach einem Löffel greift und sich Haut und Metall berühren. Der Film verlangsamt und vergrössert seine Bilder so lange, bis die Mikroebene unserer körperlichen Empfindungen sichtbar wird. Matthias Gabi hingegen bremst den Film noch stärker, hält ihn gar an, bis schliesslich am Filmkörper selbst dessen kleinste Einheit, sein atomarer Bestandteil, das starre Einzelbild zum Vorschein kommt.
Dabei ist es wesentlich, Gabis Filmstills nicht mit den sogenannten Publicity Stills zu verwechseln, wie sie die Filmindustrie jeweils zu Werbezwecken herstellen lässt. Bei einem Publicity Still fotografiert ein auf dem Filmset anwesender Fotograf Situationen während des Drehs und lässt zuweilen auch die Darsteller eigens für seine Kamera posieren. Diese abseits der eigentlichen Dreharbeiten entstehenden Fotos zirkulieren denn auch bereits, selbst wenn der Film, den sie bewerben, noch gar nicht fertig gedreht ist, und es sind diese Publicity Stills, die man auch später als Aushangbilder in den Foyers der Kinos oder auf Plakaten sehen wird. Doch entsprechen diese Bilder offensichtlich nie ganz denen, die man im tatsächlichen Film sieht. Selbst dann, wenn der Fotograf auf eigene Inszenierungen verzichtet und nur während des Drehs mitknippst, entspricht der Winkel, von dem aus er fotografiert doch nie ganz der Perspektive, welche die Filmkamera einnimmt, und auch der Bildausschnitt ist ein anderer, als jener der später auf der Leinwand zu sehen sein wird.
Die Bilder von Matthias Gabi hingegen entstammen wirklich dem Filmmaterial (beziehungsweise dessen digitale Aufbereitung auf DVD), aus dem er sie dann extrahiert. Doch mögen die so freigelegten Bilder auch dem tatsächlichen Film entnommen sein, sind sie zugleich doch, paradoxerweise, sehr viel weniger repräsentativ. Denn die dabei gewonnenen Bilder waren nie dazu gedacht, für sich alleine betrachtet zu werden, sondern sind eigentlich Teil eines ganzen Verlaufs, Glied einer bestehenden Bilderkette.
Der Künstler entreisst dem Film das einzelne Glied und macht sich dieses fremde Material zunen zu sein, so wie ein Entdecker, der ein Gebiet absteckt und zu seinem Besitz erklärt, obwohl es doch eigentlich Teil einer grösseren Topographie ist. Unter dem Begriff des Found Footage fasst die Kunsttheorie diese künstlerische Auseinandersetzung mit fremdem Bildmaterial zusammen. Doch ist der Begriff eigentlich irreführend. Statt von gefundenem müsste man eher von aufgespürtem, entwendetem, angeeignetem Material sprechen. Der Künstler findet nicht bloss, er ist ein virtuoser Dieb, der den Filmen Bilder stiehlt, von denen wir gar nicht wussten, dass der Film sie besass. Ein unscheinbares Detail, ein blosser und buchstäblicher Zwischen-Fall auf dem Filmstreifen wird von ihm zur wertvollen Ikone erhoben. Der Dieb ist somit auch ein Zauberer, der sich seine Wertgegenstände selber schafft: erst durch den Akt des Stehlens selbst, wird das gestohlene Bild in etwas Neues und Wertvolles verwandelt.
Die Schere sei ein Produktionsmittel, proklamierte der Filmemacher Sergej Eisenstein in den Zwanziger Jahren, meinte damit indes das Zusammenschneiden von einzelnen Sequenzen zu grösseren Erzählungen. Die Schere von Matthias Gabi hingegen schneidet den Film auseinander, zerteilt den Filmkörper in Partialobjekte. Doch auch das ist nicht weniger produktiv. Losgelöst von ihrem ursprünglichen Zusammenhang wird den Bildern ein Eigenleben geschenkt. Erst als weggeschnittenes, vom restlichen Filmkörper amputiertes Glied, entfaltet das Einzelbild eine ganz neue, ungeahnte Lebendigkeit.
Und doch spürt man diesen amputierten Partialbildern ihre Herkunft noch an, wie ein Phantomschmerz, eine undeutliche Erinnerung an ihre frühere Existenz. Dabei ist es freilich kein Zufall, dass es allesamt Bilder von Personen sind, die der Künstler in den Filmen aufspürt und für unseren Blick freilegt. So wie er den Film zum Stocken bringt, ihn pausiert und damit den Fluss seiner Bilder anhält, so wirken auch die gezeigten Figuren als seien sie in einem merkwürdigen Zwischenstadium befangen, als seien sie – so wie der Filmstreifen im Apparat – hängen geblieben. Abwesend sind sie, im übertragenen, ebenso wie im konkreten Sinne: Weggeschnitten, isoliert vom ursprünglichen, sie umgebenden Filmverlauf, scheinen sie sich auch psychisch und emotional in einem Limbus zu befinden, verloren in einer Zwischenwelt. Ihr Blick geht ins Leere, in jenen uneinsehbaren Raum ausserhalb des Bildkaders, von dem wir nicht wissen können, was sich dort befindet, und selbst dann, wenn die Figuren genau in die Kamera blicken, kann man nur rätseln, was sie dort sehen.
Könnten wir die Filme, aus denen Matthias Gabi diese Portraitierten einst geholt hat, wieder laufen lassen, dann würde der Fortgang des Films uns zeigen, wem oder was ihr Blick gilt und ob sie tatsächlich alleine sind, wie es das Einzelbild suggeriert, oder im Dialog mit jemand anderem stehen. Ist das vielleicht der Grund, warum wir diesen Bildern sofort anmerken, dass sie nicht wie andere Fotografien entstanden sind, sondern dass es sich dabei um stillgestellte Filmbilder handelt? Haben wir nicht instinktiv das Gefühl, dass die Bilder, die wir hier sehen, sich eigentlich bewegen, weiterlaufen müssten, um uns zu zeigen, worum es auf ihnen geht? Filmstill von Matthias Gabi aber verweigert uns konsequent solche Rückführungen. So geht es hier denn auch nicht darum, die einzelnen Bilder ihrer ursprünglichen Herkunft wieder zuzuordnen, wie in einer Art Quiz für Filmkenner. Wesentlich ist nicht, dass wir einige der fotografierten Personen möglicherweise als Filmstars wie Tom Cruise oder Clint Eastwood wiedererkennen, noch dass wir herausfinden, welcher Film es ist, aus dem die vorliegenden Aufnahmen stammen. Derartige Bestimmungen von Abstammungsverhältnissen sind nur falsche Fährten, Ablenkungen von der sehr viel verblüffenderen Einsicht, dass diese Bilder neu gelesen werden müssen, ganz unabhängig und anders als es jemals von den Regisseuren und Kameramännern intendiert war, die diese Bilder ursprünglich auf Film gebannt hatten. Indem Gabi die Bilder den Filmen entwendet, entwindet er sie auch ganz deren Deutungshoheit. Vielmehr beginnt das optische Unbewusste des Films, sein Einzelbild, über das er immer nur hinwegtäuschte, eine eigene unbekannte Geschichte zu murmeln. Wie in der freien Assoziation der Analyse beginnt das Unbewusste zu sprechen, wenn man ihm Raum gibt. Das entwundene Filmbild beginnt zu erzählen, im Dialog mit uns, die wir das Bild betrachten. Und so entsteht aus dem gefundenen, festgestellten, isolierten, amputierten, entwendeten, entwundenen, starren, unbeweglichen Einzelbild doch wieder ein Film. In unseren Gedanken, während wir all diese nachdenklichen Figuren betrachten, kommen die Bilder wieder in Zusammenhang mit anderen Bildern und geraten damit in Fluss. Es beginnt ein neuer Film, in unserem Kopf. Und jetzt erkennen wir wohl auch, wohin der rätselhafte leere Blick der Figuren gerichtet war: Er galt uns, ihren Zuschauern. Mit nichts anderem als mit uns, die wir sie sehen, stehen die Bilder in Dialog. Das Unbewusste der Bilder, das sind wir.
Johannes Binotto
Dieser Essay entstand in Zusammenhang mit der Ausstellung Frame von Matthias Gabi im Raum für zeitgenössische Fotografie, Coalmine, Volkart Stiftung Winterthur, 30. Januar bis 21. März 2015