Marianne Halter & Mario Marchisella

All my dreams fulfill

12. April – 19. Mai 2019

 

All my dreams fulfill

Marianne Halter und Mario Marchisella mit „Rest or Stay“ im Tiefparterre

Mit “Rest or Stay” eröffnen Marianne Halter und Mario Marchisella ein mögliches Endspiel. Ein: Was wäre, wenn. Ihre Arbeit im Tiefparterre des Kunstraums Kreuzlingen ist eine Fantasie dazu, was alles sein kann hinter verschlossenen Mauern. Mit „Rest or Stay“ zeigen sie eine Installation über das Beengte, räumlich und zeitlich Begrenzte, das die völlige Diskretion der Großstadt den in ihr lebenden Menschen abverlangt.

Die Inspiration für ihre Installation fanden Halter und Marchisella bei einer gemeinsamen Reise nach Japan. Beim Erkunden der Städte stiessen sie immer wieder auf scheinbar verschlossene Häuserfassaden, die in neonfarbiger Schrift Räumlichkeiten anpriesen: Stundenweise. Zur freien Nutzung. Diese Räume zur Erfüllung der Sehnsucht lassen all jenes zu, nach dem man sich sehnt und wo es im Privaten zu wenig Platz und Freiraum gibt. Es sind Räume, ausstaffiert mit allem Erdenklichen zur freien Nutzung, je nachdem, welche Türen man öffnet. Neben diesen Lovehotels für erotische Rendezvous gibt es auch Gebäude mit mietbaren Karaokeräumen, in denen unter buntem Lichterregen und mit Blick auf die Großstadt Lieder vom Bildschirm gesungen werden können. Die Bandbreite dessen, was hier nachgefragt wird, scheint absurd und schmerzvoll wahr zugleich. Gemeinsam ist diesen Räumen, dass sie zur Erfüllung der Sehnsüchte dienen, die man in sich trägt, und davon gibt es viele. Das Pathos hat hier sein Zuhause. Das Ungehörte, Ungesagte findet Platz aber auch alles, für das es außerhalb, in der offenen, beengten Grossstadt keinen Raum gibt. Emotionserfüllung kurz und knapp. Es muss Raum innerhalb von Raum geschaffen werden, in dem das Private ausgelagert und öffentlich werden kann. Ein Raum, der sich anpasst an die realen Bedürfnisse und möglichen Sehnsüchte seiner Nutzer. Alles kann, nichts muss.

Mit “Rest or Stay” öffnen Halter und Marchisella die Türen zu eben diesem Raum, in dem vieles und vor allem Unerwartetes gefunden und erlebt werden kann. Es ist ein unbekannter Raum, einer, der möglich statt real ist und der sich aus beobachteten Tatsachen nährt, jedoch selbst zu Ende gedacht, gefühlt, gehört werden muss. Halter und Marchisella beschreiben diesen Raum als “Echoraum”: als etwas, das auf den eigenen Wunsch reagiert und der nicht sagt, was ist, sondern vielmehr danach fragt,  was etwas alles sein kann und wie viele Möglichkeiten es gibt. Ihre Arbeit stellt sich gegen das einzeln Offensichtliche, oder: der Realität zum Trotz. Das nicht wissen, die Imagination und die Anregung zum eigenen Denken (zum eigenen Be-fühlen dieses Raumes) sind stets Teil und Voraussetzung.

Betritt man das Tiefparterre sind im trüben Dunkel Straßengeräusche hörbar, Gesprächsfetzen und Großstadtrauschen. Dazwischen ertönt klar und deutlich eine Stimme, die “Love me tender” von Elvis Presley singt. An der Wand leuchtet verheissungsvoll ein neonfarbiger Schriftzug “Rest or Stay”. An der Wand laufen auf einer breiten Projektion in langsamer Schleife Aufnahmen von japanischen Häuserfassaden und Gebäude-Komplexen, die eben solche Räume auf Zeit beherbergen. Undurchdringliche Beton-Fassaden ohne Fenster und mit verstecktem Zugang werden von bunten Leuchtschriften umflossen, Werbetafeln zeigen den wechselnden Preis der Räumlichkeit an. Die Bilder der Strassenfassaden zeigen, wie perfekt die städtische Architektur Japans die Idee des Verborgenen aufgegriffen hat, die Sehnsucht, das Verstecken, das Dahinter, das Anpreisen und Deklarieren.

Neben der Projektion steht in der Mitte des Tiefparterres ein Podest, der Boden und die Sitzmöglichkeiten sind mit schwarzem Vinyl überzogen, in der oberen Hälfte umrandet von einem flaschengrünen Vorhang aus Plastik, der an eine Ladenmarkise erinnert, gleich einem verhangenen Blick durch die langgezogenen dicken Wimpern eines Raumes. Schiebt man diesen Vorhang beiseite, tritt ein und nimmt Platz auf einem der Hocker lichtet sich das Geheimnis: wie ein Spiegel hängt ein Bildschirm vor uns, auf dem wir direkt in einen Raum blicken können, in der Perspektive einer versteckten Kamera. Ein unbekannter Mann, mittleren Alters, schwarze Haare, schwarzer Anzug, singt “Love me tender” in das Karaokemikrofon. Dieser Mann ist eine Kunstfigur, die in der Arbeit von Halter und Marchisella immer wieder auftaucht. Es ist der bekannte Unbekannte in der Menge, dieser eine Mensch, der einem bei genauerem Betrachten auffällig erscheint. Selbstvergessen wirkt er und dabei doch zielstrebig, wie versunken in seine eigene Aufgabe. Und doch ist es genau dieser scheinbar so gewöhnliche Mann, der die Szenerie unwirklich wirken lässt. Durch die irritierende Präsenz der Figur werden die Absurdität und zugleich das Geheimnis dieses “dritten Raumes” hervorgehoben. Wir als Betrachter beteiligen uns an dieser Suche, in dem wir uns fragen, wer dieser Mann, diese Figur, ist, woher er kommt, wohin er geht. Die eingezimmerte Privatheit des Karaokesängers steht gegen die absolute Sichtbarkeit durch uns als Beobachtende. Eine Art von Intimität, ungewollt geteilt.

Was hier sichtbar wird, erinnert an ein kleines privates Trauerspiel hinter flaschengrünen Vorhängen in diesem abgeschlossenen und zugleich so offen einsehbaren Raum der neonfarbigen Träume, Wünsche und kalten Realitäten. Die Nähe der Arbeit zu Theater und Bühne wird erkennbar in diesem theatralischen Moment, der da den Augen des Betrachters offenbart wird. Der Auftritt des unbekannten Protagonisten gibt der zuvor gesichtslosen Sehnsucht einen Namen. Aber keinen, den wir kennen. Es gibt viele Versionen der Wahrheit und Halter und Marchisella (be)greifen sie als Spiel: Alles kann sein.

“Rest or Stay” ist so kein dokumentarischer Fingerzeig, sondern ein verschachteltes Raum-im-Raum-Spiel. Marianne Halters und Mario Marchisellas Arbeit gleicht einem ausgestellten Rohzustand von Raum, von Möglichkeiten, von Realitäten. Ein Raum ist ein Raum ist ein Raum. Ist alles, was jemals (un)möglich war. Befinden wir uns innerhalb dieses Raumes fühlen wir uns sicher wie ein Kind, geschützt im Mutterleib. Und dabei sind wir in unserer versteckten Sehnsucht doch so sichtbar wie ein hell erleuchtetes Fenster in der Fassade der nächtlichen Großstadt. Dieser Wechsel von Erkenntnis wird nachvollziehbar, wenn man sich in und außerhalb des Raumes bewegt, wenn man selbst zum Betrachter wird, von außen, von innen, und selbst zum Betrachteten, im innen, im außen. Ein anteiliges Gefühl, das doch privat, anonym bleibt. Man wird zum Voyeur, Schritt für Schritt, Blick für Blick. Und betritt die wohl geschützte Privatheit. “Rest or Stay” durchbricht die Hausfassade, passiert die Zimmertüren und dringt ein in das, was niemals sichtbar wird. Obwohl sich der Protagonist allein wähnt, sitzt man doch (unerkannt) zu zweit und verweilt im engsten Raum. Und dieser Raum sagt: [be happy or whatever you want to be, rest or stay, eine kurz umrissene Zeit entlang], oder wie Elvis sagte: All my dreams fulfill. Dieser Raum kann alles und mehr, eben gerade solange bis die letzte Münze fällt, denn dann geht das Licht an und der nächste Werbejingle läuft bereits.

Barbara Marie Hofmann, 2019